SCHEIN - ZEICHNUNGEN


UWE SCHEIN


Der Kunstphilosoph und Schriftsteller Carl Michael Hofbauer zur
Eröffnung der Ausstellung "Schein-Zeichnungen" in der Galerie Röver in
Nürnberg am 15. 11. 2002. (Vortrag zu den "Zeit-Bildern")

Sehr geehrte Damen und Herren, nach Uwe Scheins Wunsch soll ich mit
einem Zitat aus meinem 1996 erschienenen Roman "Die Pantomimin"
beginnen. Das Zitat lautet:

"Nicht der Traum einer Droge, sondern die zur Kunst verwandelte Form
gestaltet das Nichts, indem es sich seiner formfordernden Gewalt beugt
und in der Begegnung mit dem Chaos die Bewährungsprobe sieht, in der es sich, derart herausgefordert, am stärksten behauptet!"

Uwe Schein liebt diese Passage, weil sie das ausdrückt, was seine
künstlerische Philosophie beinhaltet; was er fühlt und was ihn zu
seiner Kunstformulierung treibt. Der Mensch ist der Schrei nach
Ausdruck. Das Verlangen der Schöpfung gleicht dem Verlangen des
"Nichts" nach der Form.

Als ich damals das Buch "Die Pantomimin" schrieb – es handelt vom Drama
der Unerfüllbarkeit des Daseins einer mystischen Existenz – kannte ich
Schein noch nicht. Aber man sieht, durch unser späteres
Aufeinandertreffen, das vorher festgelegte Konstellationen existieren.

Scheins Arbeiten zielen in die unbekannten Bereiche der Wahrnehmung. In
einer eigenartig sich auflösenden, nonfigurativen Darstellungsweise
strebt Schein zur Transzendenzerfahrung. Schein ist von Beginn klar:
durch eine solche Erfahrung transfiguriert der Mensch. Er wird wach.
Die Auffassung der Welt verändert sich entscheidend. Der Mensch bekommt
eine Vorstellung vom metaphysischen Wesen der Welt. Der verwandelte
Mensch wird angesichts der Natur bedenklich, ja andächtig. Dazu Adorno:
die Scham vor dem Naturschönen rührt daher, dass man das noch nicht
Seiende verletze, in dem man es im Seienden ergreift. In einer
vorsichtigen, scheuen, rein gedanklichen Umkreisung will Schein mit
seiner Formsprache den Übergang vom Nichtseienden zum Seienden finden.
Er will die ontologische Differenz überwinden. Es ist die Nahtstelle
von menschlicher Seinserfahrung. Es ist des Eidetikers Fähigkeit die
ausformuliert, was sonst nur Vorstellung bleibt. Scheins Zeitbilder
sind eine Choreographie der Auflösung. Er will sich nicht von der
Realität einmauern lassen, sondern in ein Existenzstadium, in dem die
Form noch am Anfang war, als sie gleichsam an der Quelle des Nichts, in
einem ewigen Fließen war. Immer sucht er eine Situation darzustellen,
in der die Formen begannen sich zu orientieren und zusammen zu ballen.
Seine Bilderchiffren zeigen die Welt als geistige Schaubilder, gleich
mystischen Mandalas. Fast trancengleich senden sie ihre Botschaft.
Bewegung und Ruhe strahlt in ihnen. Mit seinen Zeitbildern schlägt
Schein folgendes vor: Um sich als Künstler frei und offen zu halten
bedarf es eines ständigen Loslassen der Form. Schein untersucht
dergleichen auch das Phänomen Zeit.

Was aber ist Zeit?

"Zeit", so heißt es philosophisch, "ist die formale Bedingung a priori jeder Erscheinung überhaupt".

Wie aber kann man das Verschwinden der Zeit bildhaft lösen?

Ist es doch so, dass jede Erscheinung, also auch Scheins Bilder, welche
die Zeit als solche überwinden wollen, gar nicht im Stande sind, dies
zu tun. Denn schon die Existenz der Bilder ist Zeit. Sie sind, gerade
als Erscheinung, eine Manifestation des Phänomens Zeit. Sie haben, als
Bilder, eine Nachbarschaft. Den Künstler, der existiert und sie bildet,
sowie die das Bild umgebende Physis, und nicht zuletzt des Bildes
eigene Ausdehnung, innerhalb und außerhalb derer ja immer Zeit ist.

Wie also kann er die Zeit überwinden, zeitlos machen?

Phänomenologisch ist das nicht möglich. Er kann nicht von etwas Physischem ausgehen und es gleichzeitig leugnen.



Was ist zu tun?

Uwe Scheins interessanter Bildeinfall appelliert nun, dass bei der
Wahrnehmung von etwas Seltsamen, ja absolut Fremden, dieses im Stande
sei, durch seine Erscheinung den Betrachter in einen Zustand von
Zeitlosigkeit zu versetzen. In einem Schockzustand z. B. existiert die
Zeit nicht. Nach dieser Überlegung kommt es zu einer
Umgehungsstrategie. Das Ei des Kolumbus. Zeit als zeitlos darzustellen,
ist allein die Gefühlserfahrung. Bei ihr entsteht Zeitlosigkeit. Schein
überlegt demzufolge: dort wo normalerweise die Wahrnehmung von Zeit
ruhig und ungestört fließen kann, muss er die Zeit durch das Gefühl von
Zeitlosigkeit überwinden. Es muss also der Umstand, dass in der
Erfahrung von etwas Außergewöhnlichen die Zeit verloren geht, sich in
einer bildnerischen Metaphorik widerspiegeln.
 
Wie muss eine derartige Darstellung aussehen?

Der intensive Wirklichkeitskontakt muss unterbrochen werden! Warum
nicht durch die Betrachtung von etwas Rätselhaftem? In der
Beschäftigung damit wird Zeit relativ; im günstigsten Fall nicht
wahrnehmbar. Mittels eines geeigneten Mediums, also z. B. seiner
Zeitbilder, wird man, so Scheins Überlegung, in einen anderen
Bewusstseinszustand versetzt, und gelangt derart in ein reines
zeitloses Sein. Die Welt wird "Wille und Vorstellung" wie Schopenhauer
es sagt. In zur Kontemplation anregenden Bildern, kann die Zeit
gleichsam im Nachbild des Schweigens versinken.

Schein komponiert sein Werk mit zigtausend Millimeterlinien. Es ist
erstaunlich und zeigt die Präferenz dieses Künstlers, dass die so
akribisch gefertigten Bilder nichts von den monatelangen Mühen aus sich
tragen. Denn Schein weiß: Kunst kann nur unbemüht erscheinen.
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Schein kommt zu dem Schluss: Wenn das Nichts überhaupt
zu begreifen ist, dann durch eine Erscheinung, die so weit weg ist von
aller Form, dass selbst das Phänomen Zeit darin erlischt. Das ist der
Ausweg aus der Aporie. Es ist die prognostische Simulation, in der
Dialektik und Form des Vertrauten sich bilden.

Und – es muss das Wesen der Unaufhörlichkeit des Bildes darin enthalten sein.

Die Formulierung Adornos veranschaulicht, was hier gemeint ist:

".. das Kunstwerke zeitlos sind, das sie nicht sterben können – verleiben sie sich als Ausdruck von Grauen unmittelbar ein."

Der Künstler und Betrachter müssen vollends aus der physisch logischen
Welt heraus treten, um die Tiefenschärfe des Seins wahr zu nehmen.

Unter dieser Prämisse kommen Schein sogar Zweifel am Sinn einer
offenbaren Logik. In einem bloßen Werden, einem, das noch nicht seine
Magie entfaltet, erfährt der Mensch plötzlich, dass die Frage nach dem
Sinn keine Chance hat. Die Magie des Formlosen ist etwas, das in den
Bann schlägt und die Zeit und das Nichts überwindet.
 
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